Andreas Hellmann

Rezension zu: Bernd Ternes, "Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz" (Marburg 2003)

publiziert in: Philosophischer Literaturanzeiger, Bd. 58. H.1, Jan.-März 2005, Frankfurt/M.

 

Die Habilitationsschrift von Bernd Ternes, "Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz" ist ein Versuch, der gesellschaftlichen Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts, die in ihrer "neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) weder durch poststrukturalistische und systemtheoretische Differenzphilosophie, noch durch die soziologische Systemtheorie oder die Anthropologie in ihren verschiedenen modernen Fassungen auf Begriffe gebracht, mithin verstanden werden kann, mit einer neuen Denkfigur zu begegnen.
Exzentrische Paradoxie, der zentrale Topos der Arbeit, steht dabei für den Versuch, "begrifflich ein zu Begreifendes einzuholen, das nicht mehr oder nicht mehr treffend" in den traditionellen Unterscheidungen "Leben/Tod, innen/außen, integriert/exkludiert, reflektierbar/unreflektierbar" erfasst werden kann und auch nicht mit "Begriffen wie Antagonismus, Inversion, Widerspruch, Differenz oder gar Kampf einzuholen ist".
Nachdem der Prozess der Ausdifferenzierung funktionaler Systeme und damit verbunden das sich zur Verfügung Stellen für komplexere Inklusionen auf dem Höhepunkt der Kulturindustrie an ein Ende gekommen sind und während sich ein neues Arrangement von persönlich werdender Abstraktheit und abstrakter werdender Adressalität als Person herausgebildet hat, wird exzentrische Paradoxie erkennbar als letzte Gestalt einer technischen Existenz des Menschen vor dem Übergang zu einer Existenzform, die Ternes generative Exzellenz nennt, im Rahmen derer traditionelle Formen des Nachdenkens über das Verhältnis Mensch und Technik entlang des theoretischen und begrifflichen Arrangements von Mensch, Welt, Natur, Technik, Kunst überwunden sind. Die weitere Evolution der generativen Exzellenz hängt ab von einem möglichen Kontakt, von einem sich in Resonanzsetzen mit der Kreativität der lebendigen Physis selbst, was Ternes mit dem Kultursoziologen Hans Peter Weber Kreaturdenken resp. Physiskreativität nennt.
Das dabei zu "Begreifende" ist die auf vielfältige Denkhemmungen stoßende Perspektive von einem "Tod der Gesellschaft", ist die Einsicht, dass das im emphatischen Sinne "Soziale" oder die "soziale Gesellschaft nicht nur ein spätes historisches Produkt sein könnte, sondern auch ein vorübergehendes, oder anders formuliert: Es könnte sich - exzentrisch paradox - die von Foucault mit Hinblick auf Kant so genannte "Geschossbahn der Frage nach dem Menschen ... zu einer Geschossbahn der Frage nach der Gesellschaft" wandeln.
Aus diesem Blick nämlich scheint es möglich, dass "soziale Beziehung"- radikal als technische gedacht, was Ternes unter dem Titel "Technische Existenz" tut - ein historischer, also vorübergehender Anwendungsfall technischer Beziehung" sei und dass "Sozialsein nicht mehr oder immer weniger auf den Menschen zugeschrieben werden kann, sondern nun auch auf apparative, symbolische, formale Maschinen übergeht".
Wenn das aber so wäre, würden die einheitsverbürgenden und beziehungsstiftenden Modi gesellschaftlicher Synthesis, Dynamis und Praxis, die selbst die radikalsten, im übrigen die Pole des Spektrums bildenden soziologischen Theorien, die von Guy Debord und Niklas Luhmann, noch - gleichsam ihr kleinster gemeinsamer Nenner - voraussetzten, das Nachdenken über Welt, Gesellschaft und Menschen, auf diesem Abstraktionsniveau nicht länger allein bestimmen können. An dieser sich auftuenden Leerstelle setzt "Exzentrische Paradoxie" ein.

Die Arbeit umfasst fünf Kapitel. Der Begriffs "Exzentrische Paradoxie" wird im ersten Kapitel zunächst in Beziehung gerückt zu Begriffen und Theorien - der Philosophie, Soziologie und Anthropologie von Mathematik über Logik, Neuro- und Biowissenschaften - die Vergleichbares einzukreisen bemüht sind - zum Beispiel bei Spencer Brown, Gotthard Günther, Peter Sloterdijk, Thomas Macho, Ludger Lüttkehaus und Dietmar Kamper - mit der Absicht zu überprüfen, inwieweit der Begriff "sich als einsetzbar erweist für eine soziologisch-philosophische Beschreibung von Mensch, Welt und Gesellschaft".
Ausgangspunkt und Zentrum dieses Kapitels ist der philosophisch-anthropologische Befund Helmut Plessners, dass die Geschichtlichkeit des Menschen radikal dazu zwingt, ihn nur negativ als nicht abschließend definierbar, nicht anthropologisch festlegbar, als homo absconditus zu bestimmen, weil jede positive Bestimmung selbst ein Produkt seiner Geschichtlichkeit wäre, allenfalls eine kurzlebige "Überwölbung". Mit dieser Position einer prinzipiellen Weltoffenheit des Menschen ging es Plessner um die Aufrechterhaltung der Notwendigkeit, offen offene soziale Beziehungen der Menschen zu organisieren, um dem Menschen zu entsprechen. Plessner plädiere also dafür, das Experiment namens "menschliche Gesellschaft" fortzusetzen.
Ternes behauptet nun, dass die Geschichtlichkeit des Menschen als Bezugsrahmen der Anthropologie nicht mehr taugt. Die Epoche, in welcher die Moderne darauf aus war, den Menschen zu disziplinieren und sein Sozialwesen auszusteuern, gehe ihrem Ende entgegen und werde nun abgelöst von Experimenten und Dispositiven, die die kreatürliche Dimension des Menschen aussteuern. Übrig bleiben dabei nach Ternes Menschen, für die deren historische und gesellschaftliche Bestimmungen nur noch Akzidentien sind und die somit quasi in einem geschichtslosen Raum schweben. Dabei entstehe ein neuer Zwischenbereich zwischen Leben und Tod, eine Existenzform, die Ternes das "Leblose" nennt, eine quasi um ihre Subjektivität entkernte Existenzform, in der die Individuen nur noch soziale "Hüllen" sind. Diesen Zustand soll u.a. der Begriff der ‚exzentrischen Paradoxie' erfassen.
Mit Bezug auf den von Deleuze diagnostizierten Wandel der "Disziplinargesellschaft" zur "Kontrollgesellschaft" führt Ternes aus, dass in der Disziplinargesellschaft die Menschen, insofern sie von der Norm abweichen und falls nicht disziplinierbar, entwürdigt, entfernt, vernichtet, ausgerottet werden. In der Kontrollgesellschaft dagegen entwickle sich eine größere Toleranz gegenüber der Andersheit der Anderen, gegenüber dem Abweichenden wie dem Fremden, wobei freilich die Identitätspolitik bestimmt, wer anders sein darf oder muss und wie man anders zu sein hat, so dass also der Andere, der Fremde, auf eine stets identifizierbare Weise anders ist. Es gehe nun also nicht mehr um die Zügelung oder Ausgrenzung des Fremdartigen, sondern um die Kontrolle und die imaginäre Macht über die Bilder vom Menschen.
Während Plessners exzentrischer Positionalität noch immer mit der Prämisse arbeite, dass der "Mensch als exzentrisches Lebewesen" dennoch im Zentrum aller Vermittlungen zu seiner Umwelt stehe, steht exzentrische Paradoxie demgegenüber für eine Situation, in der Menschen zwar immer noch exzentrische Lebewesen sind, aber nicht mehr im Zentrum der Vermittlungen stehen oder diese herstellen. Es sind nämlich, so die These, Ver-rückungen zu konstatieren, und zwar Ver-rückungen des Sozialen, des Seins und des Sinns: "Exzentrische Paradoxie würde dafür einstehen, daß die Menschen einen Zeitraum bezogen haben, in dem sie zugleich anwesend abwesend und abwesend abwesend sind- das bedeutet zumindest eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich im Innen außen und im Außen außen sind - das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sozialen, in dem sie schließlich im Essentiellen nur noch mit entweder möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen Unmöglichkeiten zu tun haben - das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sinns".

Angesichts dieser Verrückungen wird im zweiten Kapitel - die erkenntnistheoretische Dimension der Anthropologie betreffend - der Frage nachgegangen, "ob exzentrische Paradoxie tatsächlich nicht mehr auf die Werte des Positiven und des Negativen zurückgreifen kann" und in einer Art Registerwechsel der Erkenntnis "eines eigenen Wertes bedarf, der noch über den des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten hinausgeht."
Ausgehend u.a. von einer Interpretation der Hegelschen Verwendung der Begriffe Positives, Negatives und Wesen, gefolgt von einer Erörterung des Lacanschen Begriffs "par-être", der auch schon nicht mehr auf diesem Schema aufbaut, führt die begriffliche Durcharbeitung zu Ternes' Überzeugung, dass exzentrische Paradoxie über den begrifflichen Zusammenhang von Möglichkeit/Unmöglichkeit (Negation) und Wirklichkeit (Position) hinausweist in Richtung auf jene oben schon benannte Kategorie eines "Leblosen" als dem vielleicht dem gesuchten eigenen dritten Wert.

Das vierte Kapitel thematisiert "Exzentrische Paradoxie" diesmal zentriert um die Paradoxie. Und zwar neben eher kursorischen Betrachtungen des Paradoxen in ethymologischer, wahrheitstheoretischer, aussagenlogischer, mengentheoretischer, mathematischer und satzontologischer Hinsicht im wesentlichen um diejenige Paradoxie, die innerhalb der Systemtheorie benutzt wird. Dies deshalb, weil, so Ternes, ebendiese Theorie Paradoxie als die eigentliche Quelle autopoietischer Prozesse als auch als Grundlage wissenschaftlicher Analyse überhaupt und als heimliche Antreiberin der Entfaltung von Vokabularien und Konzepten wie Sein, Dialektik, Re- oder Evolution sowie der verschiedenen Formen des Denkens, Unterscheidens und Begreifens ausweist. Demgegenüber steht exzentrische Paradoxie für den versuchten Aufweis, dass es mit dem Einsetzen von Paradoxie ein Ende hat: "Die Zeit der Moderne ist dadurch bestimmbar, daß in ihr die Positionen exzentrisch geworden sind durch Konzentration der Negationen; die Zeit der Postmoderne ist dadurch bestimmbar, daß in ihr die Negationen exzentrisch wurden durch Konzentration der Paradoxien; aber welche Zeit von was ist dadurch bestimmbar, daß in ihr die Paradoxien exzentrisch werden durch Konzentration von was?"
Ternes sieht nämlich in dieser paradoxen Grundierung der Systembildung und -begrenzung noch einen schwachen Schimmer der Repräsentanz des "Anderen" im System selbst. Die Paradoxie verhindere, dass sich ein System als vollständig autonom, als weltentbunden, als unabhängig missversteht - bei aller Autopoiesis, operationalen Geschlossenheit und Selbstreferentialität. Diese Art der Einsetzung des Paradoxen habe, so Ternes, ein Ende gefunden: Es zeitigt als Gestalt eines Nichtganzen des Systems nicht oder nicht mehr das, was Habermas einmal "die Einbeziehung des Anderen" genannt hat. Heute wuchern die Systeme, und auch das Paradoxale hilft nicht oder nicht mehr zu verhindern, dass Systeme Umwelt verschlingen und sie zu einer Umwelt des Systems wandeln. Womit Paradoxie selber exzentrisch zu werden scheint. In diesem Sinne könnte Exzentrische Paradoxie vielleicht "die technische Existenz nach der Produktivität des Schmerzes" charakterisieren, "wobei der Schmerz - der Schmerz der Abstraktion, nicht durch Abstraktion, anhält."

Im dritten Kapitel "Technische Existenz / Generative Exzellenz" überschrieben, werden, wenn man so will, die bisherigen Befunde soziologisiert und auf die Frage nach Genese und Status "sozialer Beziehungen" hin pointiert. Ternes folgt der in der Techniksoziologie noch immer zentral interessierenden Frage, inwieweit Technik Vollzug von Gesellschaft sei und vertritt die These: "Technik ist Sozialbeziehung" und als Modus verstanden: "Beziehungen mit Beziehungen einzugehen". Eingedenk des Sachverhalts, dass 2000 Jahre Epistemologie nicht ausgereicht haben, den Nexus zwischen der Welt-Realität und dem menschlichen Bewusstsein zu erkennen, folgert Ternes nun, dass die konstitutive Beziehungslosigkeit des Menschen in der Technik realisiert wird, insofern "Technik für die Organisation sozialer Gesellschaft das geworden ist, was für das einzelne Bewusstsein das Unbewusste darstellt". Menschliche Technik "meint einen Zustand, indirekt mit der Welt verbunden zu sein, ohne auf die reflexive exzentrische Positionalität verwiesen zu werden: meint die funktionierende Erschaffung technogener Nähe; meint eine rigid explizite Subordination des Sozialen unters Technische, meint schließlich einen Zustand des Passens von Aktomen mit der Welt, ohne Gewähr, dass sie auch etwas miteinander zu tun haben." In der exzentrischen Paradoxie von Zeiträumen nimmt die durch Technik realisierte Beziehungslosigkeit eine radikale Fassung, nämlich eine "Entziehung der Beziehungen" an.

Die Frage, was dies bedeuten könnte: die drohende Zerstörung der physischen Basis menschlichen Lebens oder den allmählichen Übergang gesellschaftlicher Menschen und menschlicher Gesellschaften ins Transhumane, lässt Ternes offen, prüft aber doch im nächsten Schritt das Evolutionsdenken von Hans Peter Weber, dessen noch wenig bekannte Schriften die Avantgarde des gegenwärtigen Denkens zur Möglichkeit einer Transformation des Menschen ins Transhumane bilden dürften und dessen Prospekt einer Gesellschaftsevolution eine Rückkrümmung des geschichtlichen Raumes ausmacht, die Spätestes mit Frühestem kurzschließt, somit jedes lineare Geschichtsverständnis unterläuft. Weber beschreibt einen fünfphasigen Verlauf der Gesellschaftsevolution mit den Großphasen Natur, Kultur, Zivilisation, der Verwandlungsform Nurture einmündend in die Rekultivierungs- bzw einer erneuten Einbergungsform Curture, der zusammengehalten wird durch eben jene evolutive Figur einer Rückkrümmung des geschichtlichen Verlaufes, die Weber Inzess nennt.
Ternes erkennt hier jedoch sehr deutlich, dass es keinen direkten oder gar automatischen Übergang von der exzentrischen Paradoxie zu jener Existenzform gibt, die Weber Generative Exzellenz nennt und die bereits jener neuen Einbergungsform curture angehört. Es seien nämlich alte und neue Kulturtechniken, d.h. Gesellschaftstechniken, Techniken einer Rekultivierung von Gesellschaft, die, soviel wird deutlich, Generative Exzellenz hervorbringen und das exzentrisch Paradoxe aktueller Gesellschaftsformationen überwinden.

Die Erklärungskraft des Terminus "Exzentrische Paradoxie", den Bernd Ternes zunächst zusammen mit seinem Lehrer Dietmar Kamper entwickelt hat, wird auch am Ende durchaus noch nicht recht fassbar. Das war durchaus zu erwarten, vielleicht geradezu beabsichtigt, wenngleich man dem Autoren zugestehen muss, dass die Darstellung und die Entwicklung seiner Thesen zur exzentrischen Paradoxie ausgesprochen gut entwickelt und begründet sind. Angesichts der Entwicklungen in den technologisch fundamentierten Biowissenschaften, in deren Gefolge eine geschlossene Anthropologie aufgetaucht ist, die den gesamten Horizont besetzt hält: das Bild des perfekten Menschen mit blauen Augen, blonden Haaren und einem IQ weit über Hundert - steht der Begriff "Exzentrische Paradoxie" dafür, im augenblicklichen Stadium des "Experiments Mensch" alles in der Schwebe zu lassen, also jede anthropologische Festlegung und jedes Menschenbild zu vermeiden und abzuwehren.

Die sehr gelehrte, auf allerhöchstem theoretischen Niveau brillant geschriebene Abhandlung von Bernd Ternes, die dem Leser enorme Schwierigkeiten bereitet - allein die Lektüre der Anmerkungen liest sich wie eine Bildungsreise durch das zeitgenössische Denken - hat ihre herausragende Bedeutung vielleicht darin, dass Ternes die verschiedenen Sackgassen einer sich überdrehenden Kulturindustrie, Kontrollgesellschaft, Simulationsgesellschaft, dessen was Dietmar Kamper die Immanenz des Imaginären nannte, in ihren Konsequenten für die Existenz des Menschen in der Gesellschaft radikal und schonungslos zu Ende denkt, dabei aber zugleich mit dem Konzept der generativen Exzellenz - im Zusammenhang eines neuen Technikverständnisses, einem neuen Verhältnis zur Technik, das das traditionelle techné-Konzept überwindet - als einer somit spezifische technikphilosophische Einsichten mitdenkende und integrierende Version der Foucaultschen Ästhetik der Existenz die Fluchtlinie andeutet, in der sich entwickelnden Weltgesellschaft mit ihren zahlreichen Kontrollmechanismen einen Standpunkt zu beziehen, der es erlaubt, sich als soziales Wesen in einer rhizomatisch zu nennenden Gesellschaftsformation neu zu formieren.

Seitenanfang