Die
Habilitationsschrift von Bernd Ternes, "Exzentrische Paradoxie.
Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz" ist ein Versuch,
der gesellschaftlichen Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts,
die in ihrer "neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) weder durch
poststrukturalistische und systemtheoretische Differenzphilosophie,
noch durch die soziologische Systemtheorie oder die Anthropologie
in ihren verschiedenen modernen Fassungen auf Begriffe gebracht,
mithin verstanden werden kann, mit einer neuen Denkfigur zu begegnen.
Exzentrische Paradoxie, der zentrale Topos der Arbeit, steht dabei
für den Versuch, "begrifflich ein zu Begreifendes einzuholen, das
nicht mehr oder nicht mehr treffend" in den traditionellen Unterscheidungen
"Leben/Tod, innen/außen, integriert/exkludiert, reflektierbar/unreflektierbar"
erfasst werden kann und auch nicht mit "Begriffen wie Antagonismus,
Inversion, Widerspruch, Differenz oder gar Kampf einzuholen ist".
Nachdem der Prozess der Ausdifferenzierung funktionaler Systeme
und damit verbunden das sich zur Verfügung Stellen für komplexere
Inklusionen auf dem Höhepunkt der Kulturindustrie an ein Ende gekommen
sind und während sich ein neues Arrangement von persönlich werdender
Abstraktheit und abstrakter werdender Adressalität als Person herausgebildet
hat, wird exzentrische Paradoxie erkennbar als letzte Gestalt einer
technischen Existenz des Menschen vor dem Übergang zu einer Existenzform,
die Ternes generative Exzellenz nennt, im Rahmen derer traditionelle
Formen des Nachdenkens über das Verhältnis Mensch und Technik entlang
des theoretischen und begrifflichen Arrangements von Mensch, Welt,
Natur, Technik, Kunst überwunden sind. Die weitere Evolution der
generativen Exzellenz hängt ab von einem möglichen Kontakt, von
einem sich in Resonanzsetzen mit der Kreativität der lebendigen
Physis selbst, was Ternes mit dem Kultursoziologen Hans Peter Weber
Kreaturdenken resp. Physiskreativität nennt.
Das dabei zu "Begreifende" ist die auf vielfältige Denkhemmungen
stoßende Perspektive von einem "Tod der Gesellschaft", ist die Einsicht,
dass das im emphatischen Sinne "Soziale" oder die "soziale Gesellschaft
nicht nur ein spätes historisches Produkt sein könnte, sondern auch
ein vorübergehendes, oder anders formuliert: Es könnte sich - exzentrisch
paradox - die von Foucault mit Hinblick auf Kant so genannte "Geschossbahn
der Frage nach dem Menschen ... zu einer Geschossbahn der Frage
nach der Gesellschaft" wandeln.
Aus diesem Blick nämlich scheint es möglich, dass "soziale Beziehung"-
radikal als technische gedacht, was Ternes unter dem Titel "Technische
Existenz" tut - ein historischer, also vorübergehender Anwendungsfall
technischer Beziehung" sei und dass "Sozialsein nicht mehr oder
immer weniger auf den Menschen zugeschrieben werden kann, sondern
nun auch auf apparative, symbolische, formale Maschinen übergeht".
Wenn das aber so wäre, würden die einheitsverbürgenden und beziehungsstiftenden
Modi gesellschaftlicher Synthesis, Dynamis und Praxis, die selbst
die radikalsten, im übrigen die Pole des Spektrums bildenden soziologischen
Theorien, die von Guy Debord und Niklas Luhmann, noch - gleichsam
ihr kleinster gemeinsamer Nenner - voraussetzten, das Nachdenken
über Welt, Gesellschaft und Menschen, auf diesem Abstraktionsniveau
nicht länger allein bestimmen können. An dieser sich auftuenden
Leerstelle setzt "Exzentrische Paradoxie" ein.
Die
Arbeit umfasst fünf Kapitel. Der Begriffs "Exzentrische Paradoxie"
wird im ersten Kapitel zunächst in Beziehung gerückt zu Begriffen
und Theorien - der Philosophie, Soziologie und Anthropologie von
Mathematik über Logik, Neuro- und Biowissenschaften - die Vergleichbares
einzukreisen bemüht sind - zum Beispiel bei Spencer Brown, Gotthard
Günther, Peter Sloterdijk, Thomas Macho, Ludger Lüttkehaus und Dietmar
Kamper - mit der Absicht zu überprüfen, inwieweit der Begriff "sich
als einsetzbar erweist für eine soziologisch-philosophische Beschreibung
von Mensch, Welt und Gesellschaft".
Ausgangspunkt und Zentrum dieses Kapitels ist der philosophisch-anthropologische
Befund Helmut Plessners, dass die Geschichtlichkeit des Menschen
radikal dazu zwingt, ihn nur negativ als nicht abschließend definierbar,
nicht anthropologisch festlegbar, als homo absconditus zu bestimmen,
weil jede positive Bestimmung selbst ein Produkt seiner Geschichtlichkeit
wäre, allenfalls eine kurzlebige "Überwölbung". Mit dieser Position
einer prinzipiellen Weltoffenheit des Menschen ging es Plessner
um die Aufrechterhaltung der Notwendigkeit, offen offene soziale
Beziehungen der Menschen zu organisieren, um dem Menschen zu entsprechen.
Plessner plädiere also dafür, das Experiment namens "menschliche
Gesellschaft" fortzusetzen.
Ternes behauptet nun, dass die Geschichtlichkeit des Menschen als
Bezugsrahmen der Anthropologie nicht mehr taugt. Die Epoche, in
welcher die Moderne darauf aus war, den Menschen zu disziplinieren
und sein Sozialwesen auszusteuern, gehe ihrem Ende entgegen und
werde nun abgelöst von Experimenten und Dispositiven, die die kreatürliche
Dimension des Menschen aussteuern. Übrig bleiben dabei nach Ternes
Menschen, für die deren historische und gesellschaftliche Bestimmungen
nur noch Akzidentien sind und die somit quasi in einem geschichtslosen
Raum schweben. Dabei entstehe ein neuer Zwischenbereich zwischen
Leben und Tod, eine Existenzform, die Ternes das "Leblose" nennt,
eine quasi um ihre Subjektivität entkernte Existenzform, in der
die Individuen nur noch soziale "Hüllen" sind. Diesen Zustand soll
u.a. der Begriff der ‚exzentrischen Paradoxie' erfassen.
Mit Bezug auf den von Deleuze diagnostizierten Wandel der "Disziplinargesellschaft"
zur "Kontrollgesellschaft" führt Ternes aus, dass in der Disziplinargesellschaft
die Menschen, insofern sie von der Norm abweichen und falls nicht
disziplinierbar, entwürdigt, entfernt, vernichtet, ausgerottet werden.
In der Kontrollgesellschaft dagegen entwickle sich eine größere
Toleranz gegenüber der Andersheit der Anderen, gegenüber dem Abweichenden
wie dem Fremden, wobei freilich die Identitätspolitik bestimmt,
wer anders sein darf oder muss und wie man anders zu sein hat, so
dass also der Andere, der Fremde, auf eine stets identifizierbare
Weise anders ist. Es gehe nun also nicht mehr um die Zügelung oder
Ausgrenzung des Fremdartigen, sondern um die Kontrolle und die imaginäre
Macht über die Bilder vom Menschen.
Während Plessners exzentrischer Positionalität noch immer mit der
Prämisse arbeite, dass der "Mensch als exzentrisches Lebewesen"
dennoch im Zentrum aller Vermittlungen zu seiner Umwelt stehe, steht
exzentrische Paradoxie demgegenüber für eine Situation, in der Menschen
zwar immer noch exzentrische Lebewesen sind, aber nicht mehr im
Zentrum der Vermittlungen stehen oder diese herstellen. Es sind
nämlich, so die These, Ver-rückungen zu konstatieren, und zwar Ver-rückungen
des Sozialen, des Seins und des Sinns: "Exzentrische Paradoxie würde
dafür einstehen, daß die Menschen einen Zeitraum bezogen haben,
in dem sie zugleich anwesend abwesend und abwesend abwesend sind-
das bedeutet zumindest eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich
im Innen außen und im Außen außen sind - das bedeutet zumindest
eine Verrückung des Sozialen, in dem sie schließlich im Essentiellen
nur noch mit entweder möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen
Unmöglichkeiten zu tun haben - das bedeutet zumindest eine Verrückung
des Sinns".
Angesichts
dieser Verrückungen wird im zweiten Kapitel - die erkenntnistheoretische
Dimension der Anthropologie betreffend - der Frage nachgegangen,
"ob exzentrische Paradoxie tatsächlich nicht mehr auf die Werte
des Positiven und des Negativen zurückgreifen kann" und in einer
Art Registerwechsel der Erkenntnis "eines eigenen Wertes bedarf,
der noch über den des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten
hinausgeht."
Ausgehend u.a. von einer Interpretation der Hegelschen Verwendung
der Begriffe Positives, Negatives und Wesen, gefolgt von einer Erörterung
des Lacanschen Begriffs "par-être", der auch schon nicht mehr auf
diesem Schema aufbaut, führt die begriffliche Durcharbeitung zu
Ternes' Überzeugung, dass exzentrische Paradoxie über den begrifflichen
Zusammenhang von Möglichkeit/Unmöglichkeit (Negation) und Wirklichkeit
(Position) hinausweist in Richtung auf jene oben schon benannte
Kategorie eines "Leblosen" als dem vielleicht dem gesuchten eigenen
dritten Wert.
Das
vierte Kapitel thematisiert "Exzentrische Paradoxie" diesmal zentriert
um die Paradoxie. Und zwar neben eher kursorischen Betrachtungen
des Paradoxen in ethymologischer, wahrheitstheoretischer, aussagenlogischer,
mengentheoretischer, mathematischer und satzontologischer Hinsicht
im wesentlichen um diejenige Paradoxie, die innerhalb der Systemtheorie
benutzt wird. Dies deshalb, weil, so Ternes, ebendiese Theorie Paradoxie
als die eigentliche Quelle autopoietischer Prozesse als auch als
Grundlage wissenschaftlicher Analyse überhaupt und als heimliche
Antreiberin der Entfaltung von Vokabularien und Konzepten wie Sein,
Dialektik, Re- oder Evolution sowie der verschiedenen Formen des
Denkens, Unterscheidens und Begreifens ausweist. Demgegenüber steht
exzentrische Paradoxie für den versuchten Aufweis, dass es mit dem
Einsetzen von Paradoxie ein Ende hat: "Die Zeit der Moderne ist
dadurch bestimmbar, daß in ihr die Positionen exzentrisch geworden
sind durch Konzentration der Negationen; die Zeit der Postmoderne
ist dadurch bestimmbar, daß in ihr die Negationen exzentrisch wurden
durch Konzentration der Paradoxien; aber welche Zeit von was ist
dadurch bestimmbar, daß in ihr die Paradoxien exzentrisch werden
durch Konzentration von was?"
Ternes sieht nämlich in dieser paradoxen Grundierung der Systembildung
und -begrenzung noch einen schwachen Schimmer der Repräsentanz des
"Anderen" im System selbst. Die Paradoxie verhindere, dass sich
ein System als vollständig autonom, als weltentbunden, als unabhängig
missversteht - bei aller Autopoiesis, operationalen Geschlossenheit
und Selbstreferentialität. Diese Art der Einsetzung des Paradoxen
habe, so Ternes, ein Ende gefunden: Es zeitigt als Gestalt eines
Nichtganzen des Systems nicht oder nicht mehr das, was Habermas
einmal "die Einbeziehung des Anderen" genannt hat. Heute wuchern
die Systeme, und auch das Paradoxale hilft nicht oder nicht mehr
zu verhindern, dass Systeme Umwelt verschlingen und sie zu einer
Umwelt des Systems wandeln. Womit Paradoxie selber exzentrisch zu
werden scheint. In diesem Sinne könnte Exzentrische Paradoxie vielleicht
"die technische Existenz nach der Produktivität des Schmerzes" charakterisieren,
"wobei der Schmerz - der Schmerz der Abstraktion, nicht durch
Abstraktion, anhält."
Im
dritten Kapitel "Technische Existenz / Generative Exzellenz" überschrieben,
werden, wenn man so will, die bisherigen Befunde soziologisiert
und auf die Frage nach Genese und Status "sozialer Beziehungen"
hin pointiert. Ternes folgt der in der Techniksoziologie noch immer
zentral interessierenden Frage, inwieweit Technik Vollzug von Gesellschaft
sei und vertritt die These: "Technik ist Sozialbeziehung"
und als Modus verstanden: "Beziehungen mit Beziehungen einzugehen".
Eingedenk des Sachverhalts, dass 2000 Jahre Epistemologie nicht
ausgereicht haben, den Nexus zwischen der Welt-Realität und dem
menschlichen Bewusstsein zu erkennen, folgert Ternes nun, dass die
konstitutive Beziehungslosigkeit des Menschen in der Technik realisiert
wird, insofern "Technik für die Organisation sozialer Gesellschaft
das geworden ist, was für das einzelne Bewusstsein das Unbewusste
darstellt". Menschliche Technik "meint einen Zustand, indirekt mit
der Welt verbunden zu sein, ohne auf die reflexive exzentrische
Positionalität verwiesen zu werden: meint die funktionierende Erschaffung
technogener Nähe; meint eine rigid explizite Subordination des Sozialen
unters Technische, meint schließlich einen Zustand des Passens von
Aktomen mit der Welt, ohne Gewähr, dass sie auch etwas miteinander
zu tun haben." In der exzentrischen Paradoxie von Zeiträumen nimmt
die durch Technik realisierte Beziehungslosigkeit eine radikale
Fassung, nämlich eine "Entziehung der Beziehungen" an.
Die
Frage, was dies bedeuten könnte: die drohende Zerstörung der physischen
Basis menschlichen Lebens oder den allmählichen Übergang gesellschaftlicher
Menschen und menschlicher Gesellschaften ins Transhumane, lässt
Ternes offen, prüft aber doch im nächsten Schritt das Evolutionsdenken
von Hans Peter Weber, dessen noch wenig bekannte Schriften die Avantgarde
des gegenwärtigen Denkens zur Möglichkeit einer Transformation des
Menschen ins Transhumane bilden dürften und dessen Prospekt einer
Gesellschaftsevolution eine Rückkrümmung des geschichtlichen Raumes
ausmacht, die Spätestes mit Frühestem kurzschließt, somit jedes
lineare Geschichtsverständnis unterläuft. Weber beschreibt einen
fünfphasigen Verlauf der Gesellschaftsevolution mit den Großphasen
Natur, Kultur, Zivilisation, der Verwandlungsform Nurture einmündend
in die Rekultivierungs- bzw einer erneuten Einbergungsform Curture,
der zusammengehalten wird durch eben jene evolutive Figur einer
Rückkrümmung des geschichtlichen Verlaufes, die Weber Inzess nennt.
Ternes erkennt hier jedoch sehr deutlich, dass es keinen direkten
oder gar automatischen Übergang von der exzentrischen Paradoxie
zu jener Existenzform gibt, die Weber Generative Exzellenz nennt
und die bereits jener neuen Einbergungsform curture angehört. Es
seien nämlich alte und neue Kulturtechniken, d.h. Gesellschaftstechniken,
Techniken einer Rekultivierung von Gesellschaft, die, soviel wird
deutlich, Generative Exzellenz hervorbringen und das exzentrisch
Paradoxe aktueller Gesellschaftsformationen überwinden.
Die
Erklärungskraft des Terminus "Exzentrische Paradoxie", den Bernd
Ternes zunächst zusammen mit seinem Lehrer Dietmar Kamper entwickelt
hat, wird auch am Ende durchaus noch nicht recht fassbar. Das war
durchaus zu erwarten, vielleicht geradezu beabsichtigt, wenngleich
man dem Autoren zugestehen muss, dass die Darstellung und die Entwicklung
seiner Thesen zur exzentrischen Paradoxie ausgesprochen gut entwickelt
und begründet sind. Angesichts der Entwicklungen in den technologisch
fundamentierten Biowissenschaften, in deren Gefolge eine geschlossene
Anthropologie aufgetaucht ist, die den gesamten Horizont besetzt
hält: das Bild des perfekten Menschen mit blauen Augen, blonden
Haaren und einem IQ weit über Hundert - steht der Begriff "Exzentrische
Paradoxie" dafür, im augenblicklichen Stadium des "Experiments Mensch"
alles in der Schwebe zu lassen, also jede anthropologische Festlegung
und jedes Menschenbild zu vermeiden und abzuwehren.
Die
sehr gelehrte, auf allerhöchstem theoretischen Niveau brillant geschriebene
Abhandlung von Bernd Ternes, die dem Leser enorme Schwierigkeiten
bereitet - allein die Lektüre der Anmerkungen liest sich wie eine
Bildungsreise durch das zeitgenössische Denken - hat ihre herausragende
Bedeutung vielleicht darin, dass Ternes die verschiedenen Sackgassen
einer sich überdrehenden Kulturindustrie, Kontrollgesellschaft,
Simulationsgesellschaft, dessen was Dietmar Kamper die Immanenz
des Imaginären nannte, in ihren Konsequenten für die Existenz des
Menschen in der Gesellschaft radikal und schonungslos zu Ende denkt,
dabei aber zugleich mit dem Konzept der generativen Exzellenz -
im Zusammenhang eines neuen Technikverständnisses, einem neuen Verhältnis
zur Technik, das das traditionelle techné-Konzept überwindet - als
einer somit spezifische technikphilosophische Einsichten mitdenkende
und integrierende Version der Foucaultschen Ästhetik der Existenz
die Fluchtlinie andeutet, in der sich entwickelnden Weltgesellschaft
mit ihren zahlreichen Kontrollmechanismen einen Standpunkt zu beziehen,
der es erlaubt, sich als soziales Wesen in einer rhizomatisch zu
nennenden Gesellschaftsformation neu zu formieren.
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